Wie so oft heute geht mein Blick nach oben und bleibt an der Stange hängen, die weithin gut sichtbar die Scharte auf dem Hauptkamm markiert. Schon in der Früh hatte sie ganz nah gewirkt – dabei hat sich die gefühlte Distanz nicht verändert. Um mich herum liegen in alle Richtungen bis zu kleinwagengroße Granitfelsen wild durcheinander, als hätte ein Riese sie mit einem ebenso riesigen Eimer ausgeschüttet. Trotz der Höhe ist es warm hier im Talschluss, der wie ein Amphitheater geformt und nach Süden ausgerichtet ist: Die Steine heizen sich seit dem Morgen im strahlenden Sonnenschein auf. Luzie hat sich, wie bei jeder kurzen Verschnaufpause, in eine schneegefüllte Felsnische verkrochen. Ich wuchte mich und meinen Rucksack wieder hoch, sage zu ihr: »Auf geht’s, weiter«, und helfe ihr auf den nächsten Granitbrocken hinauf.

Wir sind am Alpenhauptkamm unterwegs. Genauer gesagt ist unser eingespieltes Mensch-Hund-Dreierteam dabei, den zentralen Bergrücken in den österreichischen Ostalpen von Süd nach Nord zu überqueren, mit seilversicherten Pfaden, Klettersteigpassagen, Blockgelände, Graten, Altschneefeldern, Gletscherzungen – also alles technisch problemlos für uns und unseren Bergdale und gleichzeitig so schön herausfordernd, wie wir es mögen und wie Luzie vergnügt dabei ihre roten Packtaschen trägt oder sich im Spezialgeschirr durch senkrechte Felswände abseilen lässt.

Eine ganz tolle Idee – ehrlich

Der Plan, den Hauptkamm zu überqueren, hat sich wie so oft aus einer Schnapsidee entwickelt. Wir hatten bereits einige schwere Hüttentouren in unserem Stammgebiet gemacht, dem Nationalpark Hohe Tauern vom Zillertal bis zur Venedigergruppe auf der Nordseite des Hauptkamms. Freunde von uns verbringen auf der Südseite regelmäßig ihren Urlaub; keine 30 Kilometer Luftlinie entfernt, aber wegen der wenigen Straßen, die über den Hauptkamm führen, fast zwei Stunden Autofahrt plus Mautgebühren. Da ist man ja schneller gelaufen! Gesagt, gelacht – und in die Planung gestürzt.

Im Moment jedoch kommt mir das alles wie eine wahre Schnapsidee vor. Schon sehr früh heute Morgen ist deutlich geworden, dass es die so sorgfältig ausgewählte Strecke in sich hat. Es ist nicht einfach eine schwere Hochgebirgsroute, das war uns vorher klar gewesen. Auch, dass die sich zurückziehenden Gletscher die Wege stark verändern, ist für uns nichts Neues, selbst wenn das Ausmaß in dem Tal, das wir durchlaufen, besonders extrem ist. Nein. Kalt erwischt hat uns, dass die Alpenvereinssektion, die dieses Wegstück betreut, offenbar seit Jahren nichts für den Wegeerhalt unternimmt. An sich ist das angesichts der Kosten und des Aufwands ja nicht verwerflich, allerdings ist in keinem der Gebietsführer oder Karten des Alpenvereins und an keinem Wegweiser vermerkt, dass die Wegmarkierungen veraltet sind und vor allem – durch die schwindenden Gletscher und Schneefelder – große Lücken aufweisen. Fast den ganzen Tag schon bremst uns die Suche nach Wegmarken und einer auch für Luzie gut gangbaren Route aus. Dazu kommt die ständig notwendige Geländebeurteilung in den kilometerlangen Blockfeldern, unter denen sich noch immer Gletschertore und -abflüsse befinden. Das Vorwärtskommen ist ungewöhnlich kraftraubend und mühselig, und trotz großzügig geplanter Zeitreserven sehen wir mit wachsender Sorge auf die Uhr.

Das ideale Drei-Tage-Wetterfenster

Dabei hatte die Tour wunderbar begonnen. Am ersten Tag waren wir mit Zug und Bus in vollem Marschgepäck ins Virgental gefahren. Der Aufstieg von Prägraten auf die Eisseehütte war warm, wartete jedoch mit herrlichen Ausblicken aus dem Lärchenwald hinaus ins Tal auf. Sogar der höchste Berg Österreichs, der Großglockner, zeigte sich. Nach einer kurzen Nacht auf der Eisseehütte war das Gelände dann aber endlich ganz nach unserem Geschmack: von der kalten Hochgebirgsnacht überfrostete kleine Seen, Pfade statt breiter Wege, viel Fels, noch mehr Murmeltiere – und dann, plötzlich, eine schier unendliche Fläche voll blühenden Edelweiß! Es müssen Tausende gewesen sein. Ein unglaubliches Bild, das ich auch in den hintersten Winkeln eines Nationalparks nicht erwartet hätte. Nach einem tiefdunkeltürkisblauen Gletschersee und dem Aufstieg zur Zopetscharte, der deutlich einfacher war als erwartet, hatten wir die Muße für eine ausgedehnte Pause auf dem gemütlich breiten Gratübergang, der rundherum ein herrliches Panorama zu bieten hatte. Es war ein perfekter Tag in den Bergen, gekrönt von Sonne, blauem Himmel und Schäfchenwolken. Wir genossen ihn bewusst – wohlwissend, dass der nächste Tag hart werden würde. Wie hart, ahnten wir auf dem Weg zu unserem Nachtlager in der Johannishütte jedoch nicht.

Der Hauptkamm tut alles, um uns den Weg zu versperren …

»Schau mal«, reißt mich Michas Stimme aus meinen Gedanken. Er deutet auf den Boden zwischen uns. Der sonnengebleichte Schädel eines Murmeltieres grinst mich mit langen, gelben Schneidezähnen an. Zwischen den Steinen liegen Rippen, Beinknochen, die Wirbelsäule. Ob der Kerl von einem Adler nach hier oben verschleppt und verspeist worden ist? Die letzten Murmeltiere auf dem Weg hierher haben Luzie jedenfalls 400 Höhenmeter weiter unten und einige Kilometer entfernt in Erregung versetzt. Die verwitterten Knochen dagegen ignoriert sie. Sie ist schon wieder in einer Felsritze verschwunden und drückt die dicken Pfotenschuhe in den kühlenden Schnee. Zum ersten Mal brauchen wir diesen hilfreichen Schutz in den Bergen – die frisch vom ewigen Eis freigegebenen Granitblöcke der letzten Kilometer sind so rau, dass Ballen und Krallen inzwischen bis an ihre Grenzen heruntergeschmirgelt sind. Die Packtaschen haben wir schon lange gegen das Abseilgeschirr getauscht, um ihr die Navigation durch das Meer von Felsblöcken zu erleichtern und hier und da – wörtlich genommen – eingreifen zu können.

Doch jetzt zeichnet sich endlich ein Ende der Aufstiegstortour ab. Wir sind inzwischen doppelt so lange unterwegs, als in den Routenführern angegeben ist. Ein Hund im Team erfordert auf schwierigen Routen etwas mehr Zeit als ein weiterer Mensch, und wir selbst sind zudem auch keine schnellen Geher. Es ist aber hauptsächlich die schwierige Wegsuche, wegen der wir erst am frühen Nachmittag den Fuß auf das Obersulzbachtörl setzen. Wir haben es geschafft. Wir haben es wirklich geschafft! Wir sind stehen auf dem Hauptkamm, der großen Wetterscheide zwischen Nordalpen und Südalpen, auf fast 3.000 Metern Höhe, direkt zwischen den beeindruckenden Felsmassiven des Großen Geigers und des Großvenedigers.

… und belohnt uns mit einem tiefen, demütigen Glücksgefühl!

Ich atme erleichtert durch. Es geht ein lauer Wind, in dem Luzie die Fliegen vor der Nase herumtanzen. Sie weiß sofort, was zu tun ist: die nervigen Insekten vernichten. Was juckt da das großartige Panorama und die harten letzten Stunden – manchmal ist es ein Segen, wie schnell Hunde umschalten können. Wir breiten uns erst einmal auf dem schmalen, scharfkantigen Grat aus und genießen den Ausblick und dass der Aufstieg geschafft ist. Es gibt eine Brotzeit für alle. Auch für Luzie haben wir natürlich immer besondere Leckereien in petto, selbst wenn sie sie zur Motivation sicher nicht bräuchte. Ich bin aber so dankbar dafür, wie sie so wunderbar mitarbeitet, dass ich es nur richtig finde. Und mein verfressener Hund beschwert sich darüber natürlich nicht!

Der Weg geht auch nicht einfacher weiter. Der Grat ist auf der Nordseite über etwa 35 Meter so steil, dass wir abseilen müssen. Nachdem wir unsere Freude wieder etwas gezügelt, die Gurte angelegt und den Abseilpunkt eingerichtet haben, gehe ich vor und nehme kurz darauf Luzie in Empfang. Sie läuft wie bei allen nicht ganz senkrechten Wänden sicher angeseilt mit dem Kopf voraus bergab. Mit gespitzten Ohren und hoch erhobener Rute kommt sie in einem Wahnsinnstempo auf mich zu, dass mir etwas bange wird. Doch dann wird mir klar, warum: Hinter mir liegt ein ausgedehntes Schneefeld. Luzie wittert Spaß! Als wir die von der Sonne etwas aufgeweichte Fläche betreten, ringelt sie dann auch die Rute unter den Bauch, senkt das Hinterteil ab und fetzt Runde um Runde voll unbändiger Freude durch das so winterliche Weiß. Ich schüttele den Kopf. »Vor einer Stunde noch war sie die personifizierte Unlust!« In Michas Gesicht hat sich das gleiche glückliche Grinsen ausgebreitet wie bei mir. Airedales sind die geborenen Darsteller, und Luzie strahlt gerade aus jeder Pore ihres Daseins puren Spaß aus. Das ist wunderbar ansteckend.

Es bleibt hart – und wunderbar

Vor uns liegt jetzt noch ein mehrstündiger Abstiegsweg, auch wenn die Kürsinger Hütte von der anderen Talseite schon bald darauf verlockend herübergrüßt. Das Blockgelände hier auf der Nordseite ist noch sehr großflächig mit Schnee bedeckt, was uns und vor allem Luzie das Gehen immens erleichtert. Zudem hat der Österreichische Alpenverein, der den Weg auf dieser Seite betreut, ganze Arbeit geleistet: Zwischen den Schneefeldern ist der Streckenverlauf hervorragend markiert. Die Unruhe, die uns während des langwierigen, sich immer weiter verzögernden Aufstiegs zunehmend begleitet hat, löst sich, und unsere Stimmung hellt sich auf. Vom Wetter kann man das nicht sagen – etwas früher als vor drei Tagen vorhergesagt zieht ein Schlechtwettergebiet herein. Wir hoffen, die Hütte noch vor Einbruch der Dunkelheit und dem ersten Regen zu erreichen.

Die Überraschungen nehmen kein Ende

Ein Grund, warum wir die Strecke von Süd nach Nord laufen wollten, statt wie ursprünglich geplant in die umgekehrte Richtung, war, dass wir die nordseitige Strecke zum Teil bereits kannten. Bei früheren Aufenthalten auf der Kürsinger Hütte hatten wir das letzte Drittel des Abstiegswegs schon einmal begangen. Dadurch konnten wir es riskieren, zur Not in die Dunkelheit und die Erschöpfung hineinzulaufen, zudem ist dieses Teilstück fast eben mit nur wenigen potenziellen Absturzstellen. Uns stand allerdings auch noch die Querung zweier Gletscherzungen des Obersulzbachkees bevor, die vom Großvenediger herunterkommen. Ihre zahlreichen, mäandernden Abflüsse sind so tief und haben eine solch starke Strömung, dass ein Durchwaten nicht möglich ist. Allein wegen dieser Querung hatten wir tagelang unsere Steigeisen in den Rucksäcken mitgeschleppt – und ich in meinem Kopf die Sorge, ob wir eine gute Stelle finden würden, an der unsere ungewöhnliche Dreierseilschaft gut auf die andere Seite des Eispanzers gelangen konnte. Einen Versuch in die Gegenrichtung hatten wir im Jahr zuvor unter anderem deshalb aufgeben müssen, weil durch den Rückzug der Gletscher der frühere Routenverlauf nicht mehr existierte und der Zeitverlust bei der Suche nach einem neuen gangbaren Weg zu groß wurde. Trotz der guten Bedingungen auf dem Abstieg nahm meine Unruhe angesichts der zunehmenden Dämmerung daher wieder zu.

»Eine Brücke!« Vor mir ist Micha unvermittelt stehen geblieben. »Die haben überbrückt!« Er deutet mit ungläubigem Blick auf einen der großen Gletscherabflüsse. Ich bin baff – und erkenne ein Stück weiter eine zweite Brücke in dem weitläufigen Schwemmgelände. »Da ist noch eine … da drüben auch …« Es kommt mir wie ein Traum vor. Die hiesige Alpenvereinssektion hat insgesamt fünf Brücken über die Flussläufe errichtet. Damit fällt die Anspannung des Tages endgültig von mir ab. Ich hätte gern die Zungen gequert; in einer Seilschaft mit Steigeisen war ich schon lange nicht mehr unterwegs. In der zeitknappen Situation aber bin ich einfach nur froh, dass wir nun die Hütte mit Sicherheit noch bei Tageslicht erreichen.

Das Unerwartete kommt zuletzt

Schließlich sind wir inzwischen seit elf Stunden unterwegs, mit insgesamt nur eineinhalb Stunden Pause. Kurz hinter der letzten Brücke, als wir das beeindruckend schöne Gebiet der Gletscherabflüsse hinter uns gelassen haben, ist es dann soweit: Micha und ich laufen auf Autopilot. Luzie ist inzwischen immerhin so ausgepowert, dass sie sich leicht davon  abhalten lässt, in den schnell fließenden Gletscherabflüssen planschen zu gehen, doch sie ist noch immer gut drauf und will Murmeltiere jagen – während uns beiden Menschen die Feinmotorik in den Beinen vollends abhandengekommen ist. ›Das ist der Zustand, in dem beim Abstieg die tödlichen Abstürze passieren‹, schießt es mir durch den Kopf. Die Erkenntnis macht mich wieder ein bisschen wacher. Ich finde es gut, meine Grenze zu diesem Zustand zu erleben und in ihm auf diesem wenig gefährlichen restlichen Wegstück, das ich schon kenne, laufen zu müssen. Luzie lege ich irgendwann die lange Bandschlinge an, die uns auch als Leine dient. Es ist einfach zu anstrengend, sie ständig von der Murmeltiersuche abzurufen. Und zu gemein, mitanzusehen, wie fit dieser Terrier nach einer derartigen Ochsentour noch ist.

Elementare Dinge – und eine heiße Dusche

Nach zwölfeinhalb Stunden kommen wir mit dem letzten Tageslicht auf der Kürsinger Hütte an. Drinnen ist es voll und laut – ein unglaublicher Kontrast zu unserer stillen, einsamen Etappe heute, bei der uns nach unserem Aufbruch von der fast noch schlafenden Johannishütte nur eine Handvoll Kühe, ein Adler, zwei Steinböcke und das tote Murmeltier begegnet sind. Es ist Wochenende und gutes Wetter, da ist die Laune der Bergsteiger wie immer gut und der Ansturm auf den Hausberg groß: Die Hütte ist als die Erstbesteigerhütte des Großvenedigers schließlich ein Klassiker und hat heute fast 200 Schlafplätze. Wir können nur hoffen, dass unser reserviertes Zimmer noch da ist, denn wir hatten unterwegs kein Telefonnetz, um unsere Ankunftsverspätung durchzugeben. Der wortkarge Wirt hat auch nicht mehr mit uns gerechnet. Doch wir haben Glück, und ein warmes Essen können wir ebenfalls noch bekommen. Als er hört, von wo wir heute herübergelaufen sind, zieht er vielsagend die Augenbraue hoch. Ein anerkennendes Schmunzeln zieht sich durch sein Gesicht.

Das ist Balsam für unser abgekämpftes Dreierteam. Luzie bekommt heute Abend eine besonders große Ration, wir selbst gönnen uns auf diesen Tag abschließend einen Schnaps und fallen schnell ins Bett. Wir sind erschöpft von den Etappen der letzten Tage, high von der grandiosen Hochgebirgswelt, mit schmerzenden Muskeln, Knochen und Gelenken, aufgeputscht von der Überschreitung der eigenen Leistungsgrenze. Morgen steigen wir ins Tal ab, die Strapazen haben damit für dieses Jahr ein Ende. Der Gedanke an eine heiße Dusche, die Sauna und daran, in frischen, sauberen Klamotten am warmen Kachelofen die Füße hochzulegen, ist jetzt mehr als verlockend. Und doch: Noch während ich in den Schlaf drifte und mein Bergdale neben meinem Bett bereits tief und fest schlummert, überlege ich mir, welche Touren wir drei als Nächstes machen könnten. Luzies befreites Strahlen, wenn wir drei zusammen unterwegs sind, ihr Rudel komplett ist, gemeinsam etwas unternimmt, macht das Wandern durch das grandiose Hochgebirge perfekt. Es bringt meine Seele zum Glühen.

Aufstieg Eisseehütte
Erfrischung für alle
Essen nicht immer alles für alle
Edelweiß
Warten auf die lahmen Zweibeiner
Aufstieg zur Zopetscharte
Zopetspitze (3.198 m) von der Zopetscharte (2.958 m) aus
Blick auf den Eissee
Blick Richtung Virgental
Seine weltalte Majestät, der Großvenediger (3.667 m) von Süden
Mit Hund unterwegs!
Dorfertal oberhalb der Johannishütte, Blick zum Hauptkamm mit dem Obersulzbachtörl
Beginn des Aufstiegs zum Obersulzbachtörl am Ende des Dorfertals
Blockgeländequälerei mit Blick auf die Ostseite des Großvenedigers (3.667 m) mit seinem legendären Gipfelgrat
Schuttbedeckte Gletscherreste
Liniensuche im frisch freigetauten Blockgelände statt easy-going Schneefeldquerungen
Ex-Murmeltier kurz unterhalb des Obersulzbachtörls
Angekommen! Rast auf dem Obersulzbachtörl (2.918 m), im Hintergrund der Große Geiger (3.360 m)
Schlechtwetter hinter der Kürsinger Hütte
Gletscherzungen des Obersulzbachkees, vom Großvenediger kommend
Die Wegmarken werden größer – wir sind fast am Ziel